Spurensuche im Insektenreich – Louise Schmidt

Dana Meyers Südpazifikexpedition im Wechselspiel von natürlichem Schein und fiktivem Sein

Zylindrisch und bauchig, gestaucht und gestreckt, mit und ohne Deckel – dutzende Einmachgläser in verschiedenen Formen und Größen bilden einzeln stehend, aber auch grüppchenweise übereinandergestapelt eine besondere Sammlung. Ihr Inhalt ist gleichermaßen grauenhaft wie faszinierend: Insekten. Scheinbar noch lebendig kreuchen und fleuchen die ungewöhnlichen Wesen in ihren gläsernen Gefängnissen umher. Andere wiederum, auf dem Rücken liegend und die langen Gliedmaßen emporstreckend, wirken wie tote und bereits präparierte Exemplare. Fremdartig mutet der Eindruck der als Südpazifikexpedition betitelten Werkreihe Dana Meyers an. Die schimmernden Panzer der mannigfaltig gearteten Insekten weisen prächtige Farben auf: ein sattes Azurblau, ein strahlendes, von schwarzen Streifen durchbrochenes Rot oder auch irisierende Metallic-Töne in Gold und Kupfer. Es herrscht ein Wirrsal an Beinen, Fühlern und Stacheln. Zu sehen sind zart beschaffene, mit feinen Adern durchsetzte Flügel, entfaltet oder dicht am Körper anliegend, und unterschiedliches Mundwerkzeug in Form von Stech- und Saugrüsseln oder mächtigen Kieferklauen.

Zu den exotischen Eindrücken kommen höchst vertraute hinzu. Eines der Insekten erinnert an die gemeine Stubenfliege, ein anderes scheint der Ameise nachempfunden zu sein und ein weiteres gleicht einem gewöhnlichen Rosen- oder Rüsselkäfer, wie manch eine/r sie bereits in den heimischen Gefilden umherkrabbeln gesehen hat. Und doch irritieren Meyers Getiere: Eigentümlich in die Länge gestreckt ist der Leib der vermeintlichen Ameise. Denn er besteht nicht aus den üblichen drei Teilen Kopf, Brust und Hinterleib, sondern gleich aus mehreren und aneinandergereihten Brustsegmenten. Die harmlose Fliege nimmt vermittels des borstigen, aus dem Rücken sprießenden Haares und der vorspringenden, konvexen Facettenaugen plötzlich bedrohliche Züge an. Und auch die Eigenschaften des Käfers scheinen verkehrt worden zu sein: Anstatt als naturgemäßer Winzling tritt er hier – wie soeben aus Kafkas Verwandlung entsprungen – als ein etwa 30 Zentimeter großes Ungeziefer auf.

Täuschend echt erscheinen die Wesen und gleichzeitig verwundert ihre sonderbare Erscheinung. Ist es möglich, dass es sich hierbei um tatsächlich existierende Tiere handelt, fragt man sich als betrachtende Person unweigerlich. Anlass für eine Bejahung der Frage gibt die feingliedrige Physiognomie der Insekten. Die grazil sich windenden Extremitäten und nahtlos aneinanderschließenden Rückenplatten scheinen Formen zu entsprechen, wie nur die Natur sie hervorzubringen vermag. Auch die polychrom schillernden Exoskelette wirken wie ein weiteres für einen natürlichen Ursprung sprechendes Indiz. Als unhaltbar entpuppen sich diese Überlegungen jedoch bei einer näheren Betrachtung der vielen in den Gläsern verwahrten Exemplare. Der metallische Glanz ihrer Panzer, der beim ersten Anblick den Eindruck von Chitin vermittelt, verweist letztlich auf das tatsächliche Material: Metall. Es sind keine natürlichen Geschöpfe, sondern die künstlerischen Produkte von Dana Meyer.

Die fein gearbeiteten Plastiken der Bildhauerin zeugen von großem handwerklichem Geschick. Im Gegensatz zu ihren massiven Skulpturen, deren einzelne Metallplatten vor der Formung durch Schmiedefeuer erhitzt werden müssen, erfolgt der Schaffensprozess der aus dünnem Stahlblech erzeugten Insekten im Kaltzustand. Hammer und Zange dienen ihr dabei als Werkzeuge, mit denen sie dem Werkstoff durch gezieltes Schlagen und Biegen die gewünschten Formen entlockt und daraus detailreiche filigrane Gebilde entstehen lässt. Die getriebenen Teile werden anschließend miteinander verschweißt und stehen daraufhin dem Experimentierfeld weiterer Ergänzungen durch Farbe und zusätzliche Materialien offen. Meyer arbeitet bei der finalen Gestaltung ihrer Insekten mit Wasser- und Ölfarben, Pigmentstaub oder auch Holzstücken und feinen Gitterstrukturen. Daraus resultierend wird in der Südpazifikexpedition die Illusion einer naturkundlichen Sammlung geschaffen, deren überaus realistisch wirkende Insektenpräparate aus fernen Regionen zu kommen scheinen.

Verstärkt wird die Nähe zur Natur auf sprachlicher Ebene. Auf jedem Glas ist ein sorgfältig mit Tusche beschriebenes Etikett angebracht. Das Papier ist fleckig und vergilbt; wirkt schon alt. Zu lesen sind auf Deutsch und Latein der wissenschaftliche Name des jeweiligen Tieres sowie dessen Ordnungssystem. Darunter folgen der Fundort und das Jahr, in dem es vorgeblich gefangen wurde. Das Moment der Verwunderung wird angesichts der ausgeschilderten Insektenbezeichnungen in keiner Weise aufgehoben, sondern gar intensiviert. Meyers Erfindungsreichtum schlägt sich im Sprachlichen auf ähnlich kunstvolle Weise nieder wie in ihren Insektenplastiken. Einen nahezu literarischen Anspruch bergen diese kleinen Wortkreationen und ein poetischer Impetus geht mit ihren Namensgebungen einher: die Blauschweiflibelle und die Halbmondzikade oder der Bucklige Marktsauger und die Falsche Soldatenschnake; ähnlich virtuos formuliert sind die Bezeichnungen Chauvinistischer Grünrüsselkäfer und Violetter Drachenhals.Wenngleich die lyrisch-skurrilen Namen zunächst realitätsfern erscheinen, referieren sie – wie die Kreaturen selbst – zu einem gewissen Grade auf wirkliche Gegebenheiten. So wird mit der Systematik der Etiketten auf die Entomologie, also die Insektenkunde verwiesen. In Anbetracht tausender existierender Insektenarten mussten auch einige EntomologInnen bei der Namensvergabe Kreativität beweisen, was gleichermaßen wohlklingende Benennungen wie die Andromeda-Netzwanze, die Keusche Schmarotzerhummel oder die Blaugrüne Mosaikjungfer hervorbrachte.

Ein subtiles Geflecht aus wirklichkeitsnahen- und fernen Elementen wird in der Werkreihe der Künstlerin gebildet, wodurch die Phantasie der Betrachtenden spielerisch herausgefordert wird. Was ist real und was erfunden? Weiter zugespitzt wird diese Frage, wenn man die auf den Etiketten genannten Fundorte und Jahreszahlen berücksichtigt. Demnach wurden die Exemplare zwischen 1906 und 1910 auf den Inselwelten des Südpazifik gesammelt. Zwei Ebenen – die der Realität und die der Fiktion – prallen dadurch unvermittelt aufeinander. Zeitlich zu verorten ist das reale Entstehen der Meyer’schen Insekten zwischen 2011 und 2020; beständig werden im Leipziger Atelier der Künstlerin zudem neue Plastiken hergestellt, welche die umfangreiche Sammlung weiter wachsen lassen. Doch wird durch die werkimmanente und paratextuelle Sprache, also den Titel, eine zur Jahrhundertwende stattgefundene Forschungsreise in ferne Südseeorte suggeriert. Ebendiese fiktionale Südpazifikexpedition ruft vor dem geistigen Auge traumhafte Bilder von weißen Sandstränden und einsamen Lagunen, von dicht bewachsenen, mit fremdartigen Tierstimmen erfüllten Dschungeln und von in allen erdenklichen Blautönen schimmernden Meereswogen hervor. Die Arbeit Meyers spricht die den Menschen innewohnende Sehnsucht nach fernen Eilanden und dem Unbekannten an. Als deren idealer Nährboden fungieren die Vorstellungen, die die meisten von uns mit der Südsee verbinden. Der Gedanke an die Inseln und Atolle des pazifischen Ozeans zu Anfang des 20. Jahrhunderts beschwört eine Zeit herauf, in der Abenteuer noch möglich schienen, in der die Flora und Fauna entlegener Gegenden noch erforscht und die letzten Grenzen der Welt noch überschritten werden konnten.

Wesentlich geprägt wird unser Bild vom Südpazifik von den Reiseberichten und der Südseeliteratur jener Zeit. Hinzu kommen bekannte bildkünstlerische Umsetzungen des Topos, wie die friedvollen und farbenfrohen Gemälde Paul Gauguins oder Emil Noldes, auf welchen ihre Sicht der exotischen Ferne festgehalten ist. Häufig beschrieben und dargestellt wird ein harmonisches Leben im Einklang mit Natur und „Eingeborenen“, fernab von den Beschwerlichkeiten der Zivilisation. Bei einer nüchternen Betrachtung dieses kulturellen Phänomens kristallisiert sich jedoch eine stark idealisierte und romantisierte Auffassung des westlich geprägten Blicks auf das Fremde heraus. Schon damals entsprachen die in Europa herrschenden und bis heute fortwährenden (Klischee-)Vorstellungen vom schönen Südpazifikleben nicht der Realität. Unter der Kolonialherrschaft des wilhelminischen Kaiserreiches hielten spätestens im 19. Jahrhundert Unterdrückung und Ausbeutung Einzug in die Idylle – und die Sammelwut mancher Forschenden ging zuweilen so weit, dass die dortige Kultur und Natur bedroht wurde. Schon längst waren die Orte zu „verlorenen Paradiesen“ geworden.

Die sonderbaren Insekten lösen in den Betrachtenden jedoch keine beklemmenden Gefühle aus, denn ein Verweis auf die realen Hintergründe und gesellschaftlichen Missstände der kolonialistisch geprägten Forschungsreisen klingt hier nicht an. Anstatt auf die Wirklichkeit scheint die Werkreihe auf die menschliche Einbildungskraft abzuzielen. Mehrheitlich sind es Traum- und Wunschwelten, die das um die Insektensammlung gesponnene Narrativ in uns entstehen lassen. Selbst die faktischen Elemente der Arbeit – die auf den Etiketten angeführten, allesamt in der Realität vorhandenen Orte der vermeintlichen „Funde“ – wirken phantastisch angehaucht, so als ob sie alten Sagen und Geschichten entstammten: Aneityum, Upolu, Niue, Tutuila und Mehetia. Ourea taucht gar in der griechischen Mythologie als eine Gottheit in Gestalt eines personifizierten Gebirges auf.

Meyers Phantasiegetier offeriert den Betrachtenden, eine 100 Jahre zurückliegende Forschungsexpedition zu imaginieren. Die Fiktion von eifrigen EntomologInnen, wie sie von Insel zu Insel reisen, um unwirklich anmutende Insekten zu sammeln, greift weder Stereotype von Südseevorstellungen auf, noch kann sie als eine lebensnahe Schilderung der damaligen Umstände aufgefasst werden. Die Werkreihe entzieht sich einer exakten Einordnung; die Grenzen von Natur, Literatur und Kunst, Wirklichkeit und Phantasie verschwimmen. Einerseits kann die Südpazifikexpedition auf formalästhetischer Ebene als ein Kunstwerk wahrgenommen werden. Aus dieser Perspektive erfreut sich der oder die Betrachtende am Anblick einer künstlerischen, nur scheinbar naturkundlichen Insektensammlung, deren Formen- und Farbenvielfalt von der Erfindungsgabe der Bildhauerin zeugt. Darüber hinaus bietet Dana Meyer uns jedoch an, die Schwelle der analytischen Betrachtung zu überwinden und uns auf eine fiktive Reise zu begeben. Wer sich darauf einlässt und auf die eigenen träumerischen Fähigkeiten vertraut, kann selbst eintauchen in ferne Sehnsuchtsorte: den feinen Sand unter den Füßen spüren und einen kurzen Blick auf die drahtigen Beinchen des vorbeilaufenden Palmkäfers werfen; sich auf der Spur der mit einer Oxidationsschicht überzogenen Grinsenden Stabschrecke durch das Unterholz des Dschungels kämpfen; oder auch den Coconut Point auf Tutuila erklimmen, um ein Exemplar des seltenen Felsen-Stierkämpfers mit seinem im Sonnenlicht erstrahlenden metallischen Panzer einzusammeln. Die Südpazifikexpedition macht es möglich daran zu glauben, dass diese „einstigen Paradiese“ früher von faszinierenden Krabbeltieren bevölkert wurden und die letzten verbliebenen Relikte davon in der Meyer’schen Insektensammlung überdauert haben. Jederzeit abrufbar sind die darin konservierten Träume – ein flüchtiger Blick in eines der vielen Einmachgläser genügt.

Über die Autorin

Louise Schmidt

Kuratorin Frommanscher Skulpturengarten Jena Projekt Prof, Dr. Verena Krieger Lehrstuhl für Kunstgeschichte Friedrich-Schiller-Universität Jena

Herausgeberin Puplikation „Animal Crossing“ des Jenaer Kunstverein

„Animal Crossing“ Puplikation Jenaer Kunstverein (Pdf)

Südpazifikexpedition